Wir können deutlich mehr aus Rohstoffen herausholen
Herr Wünsche, welches Potenzial bietet die Nutzung moderner Extraktionstechnologien für die Lebensmittelindustrie?
Thomas Wünsche: Unsere Extraktionsverfahren ermöglichen es, auch solche Pflanzenteile nutzbar zu machen, die bislang als nicht essbar gelten. Nur weil ein Naturprodukt für den menschlichen Verzehr ungeeignet erscheint, heißt das nicht, dass seine molekularen Bestandteile keinen Nährwert bieten. Nehmen wir als Beispiel die Blätter eines Ahornbaumes. Natürlich essen wir sie nicht direkt – doch chemisch betrachtet enthalten sie Proteine, Gerbstoffe, Flavonoide, Mineralstoffe und Cellulose, also durchaus wertvolle Inhaltsstoffe.
Könnten solche bislang ungenutzten Pflanzenteile also künftig eine größere Rolle in der Ernährungssicherung spielen?
Ich bin überzeugt, in 20 bis 30 Jahren wird jede Form pflanzlicher oder biologischer Masse vollständig verwertet werden müssen. Denn angesichts des weltweiten Bevölkerungswachstums und gleichzeitig schrumpfender landwirtschaftlicher Flächen können wir es uns schlicht nicht mehr leisten, potenziell verwertbare Biomasse einfach wegzuwerfen oder nur zu kompostieren.
Mit dem Turbex hat Andritz einen Extraktor für die Herstellung funktioneller Nährstoffe aus pflanzlichen Rohstoffen und Nebenströmen entwickelt. Das System wurde auf der Anuga FoodTec 2024 mit dem International FoodTec Award in Gold ausgezeichnet. Welche Ingredients lassen sich mit dem Turbex gewinnen?
Dem Turbex sind kaum Grenzen gesetzt. Es können verschiedenste pflanzliche Stoffe extrahiert werden – zum Beispiel aus Blättern, Blüten, Wurzeln oder Rinde. Voraussetzung ist, dass das Material fein genug ist, also unter zwei Millimeter zerkleinert wird. Je nach eingesetztem Extraktionsmittel kann die Anlage gezielt Inhaltsstoffe wie Aromen, Geschmacksstoffe oder Proteine herauslösen – eben genau das, was für Lebensmittel, Getränke oder Kosmetikprodukte gebraucht wird.
Wie gelingt es, die Integrität der Nährstoffe im Extraktionsprozess zu bewahren?
Der große Vorteil unseres Systems liegt in der besonders schonenden und gleichzeitig sehr effizienten Extraktion. Statt stundenlang bei hohen Temperaturen zu extrahieren, arbeitet der Turbex bei nur 30 bis 40 Grad Celsius und das in weniger als 90 Sekunden – und ohne Luftkontakt. Das schont empfindliche Inhaltsstoffe wie Polyphenole, die dadurch deutlich aktiver und wirkungsvoller bleiben. Es werden nicht nur mehr Zielmoleküle aus der Matrix extrahiert – auch die Qualität der Extrakte ist nachweislich höher und ihr Geschmack und Geruch authentischer als bei anderen Verfahren.

Mobile Turbex-Anlage von Andritz. Copyright:© Andritz
Welche technologischen Besonderheiten gewährleisten dabei die hohe Effizienz?
Unsere Technologie nutzt das sogenannte Gegenstromprinzip und erzeugt durch starke Rotationen bis zu 100.000 Kavitationsimpulse pro Minute. Dadurch wird deutlich mehr aus den Rohstoffen herausgeholt. Viele unserer Kunden berichten von bis zu 25 Prozent höherer Ausbeute. Bei bestimmten Anwendungen, etwa bei der Extraktion von Koffein aus Teeblättern, war der Ertrag sogar mehr als dreimal so hoch wie bei klassischen Methoden.
Bei einer Fest-Flüssig-Extraktion werden die Ingredients aus einem festen pflanzlichen Material mithilfe eines Lösungsmittels herausgelöst – wie effizient ist das Verfahren?
Beim Turbex ist nur sehr wenig Flüssigkeit nötig, um die wertvollen Inhaltsstoffe aus pflanzlichem Material herauszulösen. Das Verfahren arbeitet in der Regel mit einem Verhältnis von 8:1, während herkömmliche Prozesse oft 12:1 bis 20:1 benötigen. Damit muss im Anschluss deutlich weniger Wasser verdampft werden, um die gewünschte Extraktkonzentration zu erhalten, was den Energiebedarf erheblich senkt.
Welche Nebenströme aus der Lebensmittel- und Getränkeindustrie sehen Sie derzeit als vielversprechend?
Wir verzeichnen eine starke Nachfrage zur besseren Nutzbarmachung von Reststoffen wie Zitrusschalen, um etwa Fruchtöle und -aromen zu gewinnen. Ein weiteres Beispiel sind größere Brauereigruppen, die sich für Polyphenole in Biertrebern interessieren, dort im Wesentlichen für die p-Cumarsäure und Folsäure, die in den Spelzen verbleiben. Generell sind Polyphenole wegen ihrer antioxidativen und gesundheitsfördernden Wirkung vor allem in Tees, Nahrungsergänzungsmitteln und funktionellen Getränken sehr gefragt.
In welchen Ländern und Projekten kommt der Turbex aktuell zum Einsatz – und welche Rohstoffe werden dort verarbeitet?
Seitdem wir im vorletzten Jahr mit dem Turbex an den Markt gegangen sind, haben wir über 100 Produkte unter verschiedenen Bedingungen und mit unterschiedlichen Extraktionsmitteln getestet und analysiert. Aktuell setzen wir Projekte in Japan, Italien und der Türkei um. Dort wird unter anderem Oleuropein – das wertgebende Polyphenol des Olivenöls – aus Olivenblättern extrahiert, in denen es in besonders hoher Konzentration vorkommt. Andere Kunden gewinnen Tanin aus Eichenrinde oder Maronenschalen – ein zentraler Geschmacksstoff in Rotwein und anderen Getränken.
Vor allem der Übergang vom Labor zum industriellen Maßstab stellt für Lebensmittelhersteller eine Herausforderung dar. Wie unterstützen Sie Produzenten beim Scale-up?
Andritz beschäftigt ein starkes Team von Prozessexperten sowie Lebensmittelchemikern, deren Expertise im Bereich Extraktion liegt. Dort versammeln wir erhebliches Know-how aus nahezu allen Bereichen. Unsere Forschungsergebnisse in dieser Technologie greifen auf 15 bis 20 Jahre Erfahrung zurück. Mit unserem Food Innovation Xperience Center in den Niederlanden unterstützen wir diesen Prozess und eliminieren verbleibende Herausforderungen. Erst wenn ein Prozess dort erfolgreich verlaufen ist, wird auf industriellen Maßstab skaliert.
Wie sehen Sie die Entwicklung des Markts für funktionelle Nährstoffe in den nächsten fünf bis zehn Jahren?
Der Trend zu einem gesünderen Lebensstil hält an. Immer mehr Menschen legen Wert auf eine bewusste und nachhaltige Ernährung, die auch das Tierwohl sowie alternative Proteinquellen mit einbezieht. Insbesondere jüngere Generationen sind bereit für funktionelle Getränke und alternative Lebensmittel mit körperpositiven Eigenschaften mehr Geld auszugeben. Die Anzahl der angebotenen Produkte im Einzelhandel und den Fachgeschäften verdoppelt sich alle sieben Jahre, während der globale Markt mit circa sieben Prozent Jahr für Jahr wächst. Die Erkenntnis, dass man bereits als junger Mensch durch bewusste Ernährung den Grundstein für ein gesundes Altern legt, beflügelt diesen Trend. Solange der Wunsch nach ewiger Schönheit und einem gesunden und langen Leben anhält, wird dieser Markt weiterwachsen.